Das Meerwasseraquaristik-Fachmagazin KORALLE bietet jedem Meerwasseraquarianer eine Fülle interessanter, fundierter und modern gestalteter Beiträge. Es werden die unterschiedlichsten Aspekte behandelt: Aquarienpraxis, Haltung und Vermehrung einzelner Arten, biologische Hintergrundberichte, Aquarientechnik und -chemie, Neues aus der Wirtschaft, Buchmarkt, Reportagen und Reiseberichte, Interviews und vieles mehr; alles leicht verständlich, allgemein interessant und unterhaltsam. Die Zeitschrift erscheint zweimonatlich.

Ein großer Teil der Aggressionen, die wir im Korallenriffaquarium unter Fischen beobachten, ist vom Menschen verursacht. Im natürlichen Lebensraum nur unterschwellig vorhanden, werden solche Verhaltenweisen in einer künstlich geschaffenen Umgebung und Vergesellschaftung oft zum Problem.

Zunächst möchte ich einige „aggressive“ Gedanken vorausschicken, mit denen man eigentlich nicht beginnen sollte – bei den hier vorliegenden Beiträgen soll es an sich ja um aquaristisch bewertete Aggression gehen. Aber dennoch, der Ordnung halber: Wir pflegen Korallenfische im Riffaquarium, weil wir neben ästhetischem Genuss auch eine Steigerung unseres Wohlbefindens durch Natürlichkeit in unserer nächsten Umgebung erwarten. Einigen Riffaquarianern allerdings geht es nicht um Natürlichkeit, sondern ausschließlich um reizvolle gestalterische Dekoration. Und gerade bei ihnen kommt es oft zur Fehlinterpretation von Verhaltensweisen.



Diejenigen, die eine „biologische Antenne“ für Natur und Umwelt haben und die auch ab und zu im Meer, in irgendeinem Ozean, unterwegs sind und genau hinschauen, kennen nicht das, was viele Aquarianer unter „Aggressionen bei Korallenfischen“ verstehen. Eigentlich gibt es sie nicht! Besser: Wir sehen sie kaum, die Aggression, können sie nur mit geschultem Auge erkennen. Freilebende Korallenfische in intakten, natürlichen (nicht von Menschen beeinflussten) Riffen können sich erkennbare Aggressionen, die sie unaufmerksam machen würden, nicht leisten. Auseinandersetzungen dieser Art dauern, wenn überhaupt, nur Sekundenbruchteile, aber meist zeigen die aggressiv gestimmten Fische ihrem Kontrahenten solche Stimmung schon allein mithilfe einer Änderung ihrer Körperfarbe oder der Vergrößerung bzw. Verkleinerung der Pupille an. Das alles geht blitzschnell. Sollte es länger dauern, dann ist es im Normalfall für die Beteiligten tödlich, denn einer der stets anwesenden aufmerksamen, hungrigen Fressfeinde, ein Beutegreifer, schlägt blitzschnell zu, er nutzt die Chance sofort, einen unaufmerksamen Fisch zu erwischen!

Nun darf man aber nicht dem Trugschluss verfallen, der noch immer zum Standard-Gedankengut vieler Riffaquarianer zu gehören scheint: „Ach, wie glücklich sind unsere Aquarienfische, denn sie haben im Aquarium keine Feinde!“ Und darauf folgt, wie das Amen im Gebet, die übliche Erklärung, dass die Fische in unseren Riffbecken eben so aggressiv sind, weil sie nicht auf Feinde achten müssen. „Fische sind eben gern aggressiv, und im Aquarium können sie sich endlich Aggressionen leisten, weil kein Feinddruck da ist!“ Falsch, grundfalsch!

Tatsächlich ist jeder gesunde Aquarienfisch in unserem Becken genau so achtsam, vorsichtig, wie im Riff. Ob da nun ein Feind lauert oder nicht: Arteigene Vorsicht ist angeboren und deshalb stets vorhanden; sie kann nicht abgelegt werden. Jeder sorgfältige Beobachter kann an seinen Fischen das Phänomen beobachten: In bestimmten Intervallen (oft alle paar Minuten) „rast“ die ganze Fischgesellschaft plötzlich los und versteckt sich irgendwo, kurz nur, für Sekundenbruchteile. Man fragt sich ab und zu: „Ja, was ist denn los?“ Normalerweise ist dann nichts los, aber dieses Verhalten ist eine Art Überlebenstraining für unsere Fische, das immer wieder kurzfristig abgerufen wird, damit es stets präsent, also funktionsfähig, bleibt. Das zeigen übrigens alle sogenannten „Fluchttiere“, auch im Zoo, etwa Zebras oder Gazellen. Lässt sich kein solches „Leerlauf-Fluchtverhalten“ beobachten, dann sind die Tiere nicht gesund.

Das gilt auch für unsere Fische: Fehlt dieses Verhalten, sind sie aus irgendwelchen Gründen abgestumpft, krank. Im übervollen Händlerbecken wird man solches Verhalten kaum (oder nur angedeutet) sehen. Nichtsdestoweniger sind die Fische aggressiv, aber nicht, weil der Feind fehlt, sondern weil sie hungrig sind und in jedem anderen Fisch einen Nahrungskonkurrenten sehen müssen. Ein hungernder Fisch hat keine Wahlmöglichkeit mehr zwischen Fressen oder Nichtfressen (und „Sichverstecken“), denn Letzteres würde bedeuten, selbst gefressen zu werden; ohne Nahrung stirbt er irgendwann in jedem Fall. Selbst fressen ist für ihn „sicherer“, weil er sich gesund und leistungsfähig erhält und der Feind ihn lebend vielleicht doch nicht sofort erwischt! Selbst zu fressen, setzt oft die Aggression voraus, um sich den nötigen Anteil an der Nahrung zu sichern. Und so enden meine „aggressiven“ Vorausbemerkungen auch schon mit dem Hinweis, dass gut und gesund ernährte Aquarienfische eben nicht hungrig sind.

Aggressionen bei Biofilm-Fressern
Es wäre jedoch voreilig, unseren Fischen im Aquarium oder auch im Riff jede Aggressivität abzusprechen, denn es gibt sie natürlich! Zwar kaum auffallend, aber wenn man weiß, wohin man sehen soll, dann sieht man sie. Schleimfische der Gattungen Salarias, weniger ausgeprägt bei Ecsenius, und Borstenzahn-Doktorfische der Gattung Ctenochaetus mögen einander nicht. Hier scheint tatsächlich eine stets vorhandene, nahrungsabhängige Konkurrenzsituation zu bestehen: Betrachtet man die Fressstrategien, so sind es „Substrat-Raspler“, die Schleimbeläge, Bakterienrasen u. Ä. von Hartsubstraten abschaben, kaum aber Algenpolster. Sicher wird alles mögliche nebenher ebenso gefressen, kleine Krebstiere, Mollusken, Würmchen etwa, aber größere bewegliche Beute scheint für diese Fischgruppen uninteressant. Vielleicht schafft diese Spezialisierung ein Konkurrenzverhältnis, das zwar in unseren Aquarien in dieser Form nicht verständlich ist (Borstenzahn und Salarias müssen nehmen, was zu kriegen ist!), aber das Abraspeln, Ablutschen harter Oberflächen inklusive der Aquarienscheiben kann jeder an diesen Fischen beobachten.

Salarias ist überdies – sofern gesund und munter – ein äußerst kampfbereiter, territorialer Grobian! In meinen Becken beißt er sogar Großkaiser energisch weg, die es wagen, seiner Brutröhre zu nahe zu kommen. Ich sehe das dann erst später, wenn die Bedauernswerten an den Flanken centstückgroße, runde, helle Flecken haben. Diese Schleimfische sind zweifellos die Verursacher, denn dieselben Bissspuren hinterlassen sie ja auch an veralgten Aquarienscheiben! Da es sich nicht um ernst zu nehmende Verletzungen handelt, sondern höchstens um geringfügige Irritationen der Schleimhaut, stört es weder mich noch die Kaiser, ist auch nach einigen Stunden nicht mehr sichtbar. Dass aber diese ungewöhnliche Form der Aggressivität nicht aquarienbedingt ist, weiß ich mittlerweile auch aus Riffbeobachtungen.

Mich hat immer verwundert, dass ein röhrenbesitzender Salarias-Schleimfisch, den ich „persönlich“ kannte, ab und zu wie von der Tarantel gestochen aus seinem Schlupfloch schoss, einen Doktorfisch anbiss und wieder zurücksauste. Das ging unwahrscheinlich schnell, und auffallend war die Tatsache, dass er sich aus einem „Fressknäuel“ scheinbar gleichartiger dunkler Fische immer nur einen bestimmten vornahm. Auf dem Computermonitor kam ich der Sache auf den Grund: Er biss nur Borstenzahndoktoren, und zwar Ctenochaetus strigosus, nicht aber die für mich auf den ersten Blick kaum unterscheidbaren Acanthurus nigrofuscus. Diese beiden Arten bilden häufig dichte Fressschwärme, die aus 20–50 Einzelfischen bestehen können, und da sie normalfarben dunkelbraun sind und außerdem dasselbe zu fressen scheinen, erkannte ich den Unterschied eben nicht sofort. Salarias offenbar schon, und der Schleimfisch sah auch, dass der Borstenzähner „anderes“ fraß als der Acanthurus. Jedenfalls war dies eine plausible Erklärung für solch gezielte Aggressivität. Dies bedarf jedoch einer präziseren Studie.

Also doch: Aggression! Nun sollte man sich aber vor Augen führen, dass hier berechtigte Vorgaben für Aggressivität vorliegen:

- Verteidigung eines Reviers; fast alle Schleimfische sind Substratbrüter und haben deshalb ein echtes Brutrevier, das oftmals auch darüber hinaus als Wohnbereich dient und dann verteidigt wird.

-  Die Nahrungsressourcen sind meist limitiert oder zumindest nicht jederzeit rasch zugänglich.

Diese beiden Punkte treffen auf wenige andere Fischgruppen zu, da die meisten Arten pelagische Laicher sind und/oder Jäger bzw. oder Algenfresser (Salarias fasciatus ist kein Algenfresser, sondern ernährt sich von Biofilmen, die er vom Substrat abschabt), also besteht weder wegen Revierverteidigung noch Futterkonkurrenz Grund, aggressiv zu sein. Aber: Es gibt natürlich einige Ausnahmen, und eine springt uns im Riff regelrecht ins Auge und wörtlich an die Hand, wenn wir sie unvorsichtig ausstrecken: Einige Demoisellenarten, die sich überwiegend von Algen ernähren, kultivieren diese regelrecht und verteidigen ihre „Algenplantagen“ dann grimmig und gegen jeden: Stegastes und Pomacentrus. Es ist unglaublich faszinierend, wie effizient, wie ungemein zielorientiert die Fische vorgehen: Inmitten schöner, glänzend sauberer Korallen steht ein einzelner Acroporenstock, der schon auf große Distanz durch seine fransig grünen Fadenalgenvorhänge auffällt. Da sitzen die Bewacher, und die sind tatsächlich aggressiv! Wenn man sich an die Riesen-Fressschwärme verschiedenster Doktoren und Papageifischen erinnert: Die scharen sich nur dieser kleinen beißwütigen Bestien wegen so eng zu Fressschwärmen zusammen, um an deren Algengärten zu kommen (THALER 2010a, 2010b)!

Gewisse Verhaltensanomalien unserer Aquarienfische lassen sich so erklären: Salarias „muss“ aufgrund seiner Genetik eben wirklich aggressiver sein als viele andere Arten, und dasselbe gilt für bestimmte Demoisellen, die aufgrund ihrer genetischen Prädisposition (Verteidigen limitierter Futtervorräte) ebenfalls – und oft unverständlicherweise – extrem aggressiv sind, auch wenn sie gut verpflegt werden. Doch die erwähnten algenverteidigenden Arten werden ja normalerweise nicht im Aquarium gehalten, sie sind unansehnlich graubraun und werden zudem recht groß.

Um diese Tatsache nun nochmals zu verdeutlichen: Nahrungskonkurrenz gibt es zwar im Riff kaum jemals, weil die Tiere ein ungeheuer großes Nahrungsangebot haben. Doch wenn eine Konkurrenz unter bestimmten Vorgaben tatsächlich zustande kommt, dann hat sie Aggressivität im Gefolge. In diesem Zusammenhang müssen wir auch die bezaubernden, hochinteressanten und monogamen Feilenfische Oxymonacanthus longirostris und O. halli heranziehen, die in der Ernährung reine Acropora-Spezialisten sind. Diese Feilenfische erleben keinen Geschlechtswechsel und sind partnertreu – was allerdings nicht für alle Feilenfische gilt. Im Zusammenhang mit dem weiträumig verteilten und deswegen an einem Ort limitierten Nahrungsangebot ist Monogamie sinnvoll, denn man kann nicht ohne Gefahr von Koralle zu Koralle hin- und herwechseln. Deshalb ist ein aufmerksamer Partner sehr hilfreich, und außerdem kann man die Nahrungsbestände als Paar wirkungsvoller verteidigen!

Diese Aggressionsbeispiele geben Denkanstöße, aber sie sind in unseren Riffaquarien nicht das Problem: Weder die streitlustigen Demoisellen noch der schöne Palettenfeilenfisch sind wirklich aquarientauglich! Auch andere Riffbeispiele lassen sich in oder für unsere Aquarien nicht anwenden; man denke an den recht aggressiven und riesig großen Titandrücker, der uns Menschen gegenüber wirklich aggressiv und unangenehm werden kann – wer will ihn schon zu Hause haben? Und im Riff scheint sich niemand von ihm gestört zu fühlen.
Angriffslustige Clownfische, die uns Taucher vehement attackieren, haben allerdings tatsächlich riffaquaristische Bedeutung. Ihre Aggression fällt im Riff jedoch kaum auf, obwohl sie dort stets vorhanden ist – vorhanden sein muss, da die Clowns ja ihre Anemone gegen tentakelfressende Fische verteidigen müssen. Dieses genetisch vorgegebene Angriffsverhalten kann in Aquarien ab und zu problematisch sein!

Aquarienaggressionen der besonderen Art
Wir setzen voraus, dass Sie Ihre Korallenfische sinnvoll und ausreichend häufig füttern. Und dennoch spielt sich ab und zu ein bestimmter Fisch regelrecht auf, obwohl er „nudeldick“ ist, wunderschön und weder besonders drückende Langeweile noch Platzprobleme hat. Das kenne ich nur allzu gut! Gegen eine bestimmte Form von Langeweile werden wir allerdings niemals ankommen, auch nicht in einem überdimensionierten Rundbecken, das allerdings – aus der Fischperspektive betrachtet – bestimmte Mängel haben wird. Diese allgemeine Gereiztheit, das „Granteln“, betrifft meist alteingesessene, großwüchsige Fische wie Kaiser, Doktoren und eventuell Falterfische. Sie mögen dann keine Neuzugänge mehr (dagegen kann man fast nichts mehr tun), oder, schlimmer, aus irgendeinem Grund passt ihnen ein ebenso alteingesessener Beckenkollege nicht mehr. Man kann da schon einiges entschärfen, etwa durch vorsichtige Einrichtungsänderungen, durch besonders hingebungsvolle Extrafütterungen, auch vielleicht sogar gutes Zureden – jeder, der seine Fische kennt, weiß, dass man damit argumentieren kann.

Ich habe derzeit zwei von dieser Sorte, z. B. einen einzelnen, durchgefärbten, herrlichen Imperatorkaiser – und seine spezielle Aggression habe ich selbst verschuldet. Mir ging es anfangs ausschließlich um den Farb- und Geschlechtswechsel, ich wollte die Auflösung der juvenilen Ringelzeichnung zum Streifenmuster genau dokumentieren, und schon für diesen einen Kaiser war selbst ein Zweitausendliterbecken längst zu klein. Es sollte ja nicht auf Dauer sein, und ihn bekam ich, als er knappe 4 cm lang war, ein entzückendes blauweißes Kind! Ich verliebte mich in ihn, verhätschelte ihn und behandelte ihn bevorzugt, rief dadurch wohl Neid und Missgunst unter den übrigen 34 Fischen hervor, die ihn anfänglich ignorierten, inzwischen aber alle nicht mögen. Und er sie eben auch nicht. Das zeigt er, völlig regellos und offenbar nur aus Lust am Ärgern (also doch Langeweile!). Er verletzt keinen anderen Fisch, aber sein Verhalten wirkt sich auf die gesamte Fischgesellschaft störend aus.

Wir „unterhalten“ uns grob, unfreundlich, beschimpfen uns, er knurrt mich sofort an, schon dann, wenn ich den Drehstuhl wende, um nachzusehen, wen er gerade ärgert. Ich kann ihm auf den Rücken klopfen und ihn wegschieben, wenn er allzu ekelhaft ist, dann versucht er, mich mit seinem Kiemenstachel zu rammen. Man kommt sich angesichts eines solchen Fisches hilflos vor. Er wird nach Wien übersiedeln müssen, ins Haus des Meeres – aber wann? Ähnlich, nur etwas aggressiver, geht es mir mit einem Goldring-Doktor (Ctenochaetus strigosus), der mir gegenüber bei Bedarf sein Schwanzwurzelmesser einsetzt – nur gegen mich, keinem Fisch gegenüber. Das kann noch toleriert werden. Und demnächst werde ich ein ähnliches Problem mit einem Zanclus haben. Wie ich sagte: Diese Form der Aggression ist selbst verschuldet.

Prof. Dr. Ellen Thaler