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Das Schöne an einer Hypothese ist, dass man sie korrigieren kann, wenn sich der Erfahrungshorizont erweitert

Vermutlich stammt der folgende Ausspruch von Konrad Lorenz, dass es nämlich jung halte, „täglich wenigstens eine Hypothese über Bord zu werfen“. Gemeint ist wohl, dass man sich davor hüten solle, mühsam erworbene, schwer erarbeitete und deshalb längst liebgewordene Erkenntnisse als die einzig selig machende Wahrheit anzusehen. Es kann wehtun, wenn man davon abrücken muss. Mir ist es unlängst widerfahren. Es betrifft eine bestimmte Betrachtungsweise hinsichtlich der „Scheinaugen-Theorie“.



Zunächst aber Grundsätzliches dazu, um das Thema in einen festen Rahmen zu stellen. Scheinaugen (augenähnliche Zeichnungen auf Flossen oder anderen Körperteilen eines Tiers) nützen ihrem Träger auf unterschiedliche Weise: im Rahmen einer Verwirrtaktik oder durch ihre Droh-, Abschreck- oder Schutzwirkung (was auf Korallenfische aber nur bedingt zutrifft), als Merkmal zur Erkennung einer Art oder des Geschlechts und – gerade in diesem Zusammenhang – auch als Ausdruck der momentanen Gemütslage, als Motivations-Aussage.

Hier eine ganz rasche Einführung, und die muss beim Jungfisch beginnen: Ein winziger, schutzloser junger Korallenfisch hat einen einzigen Vorteil: Eben dass er so winzig und deshalb eigentlich für viele Fressfeinde gar nicht attraktiv ist. Doch gibt es ja auch kleine Räuber! Für einen Fünfmillimeter-Lippfisch ist ein Fünfzentimeter-Zwergbarsch mindestens so lebensbedrohend wie für den ausgewachsenen Lippfisch ein Zackenbarsch!

Nun kommen wir wieder in den bereits bekannten Teufelskreis: Der Kleine muss fressen, um möglichst rasch zu wachsen, und er sollte den ganzen Tag lang nichts anderes tun. Das geht auf Kosten der Aufmerksamkeit, aber sobald er unachtsam ist, erübrigt sich sein Problem, denn er wird gefressen. Hat er jedoch irgendeine Möglichkeit, seine Fressfeinde auszutricksen, dann hat er eine Überlebenschance dazugewonnen. Jedes Mittel, wie etwa ein durch Zufall – also durch eine Mutation – auftretender Pigmentfleck auf einer Flosse bedeutet dann einen so ungeheuren Selektionsvorteil, dass sich auch das winzigste Pünktchen auf dem winzigen Fisch positiv rechnet. Falls er deshalb am Leben bleibt, wird er sein genetisch bereits fixiertes Pünktchen millionenfach mit seinen Geschlechtsprodukten weitergeben. Mutiert nun dieses Pünktchen zu einer ausgeprägteren Variante, so wird es vielleicht noch besser schützen, usw. – schon haben wir den ersten Augenfleck, ein Scheinauge, das nun die lebensrettende Funktion übernimmt.

Interessierte Aquarianer könnten gerade bei jungen Lippfischen auf das Vorhandensein solcher Augenflecke achten. Manche Jungfische tragen sie nur wenige Wochen, wie etwa Macropharyngodon bipartitus, der seine vier Scheinaugen gerade einen knappen Monat behält. Dann ist er beweglicher, wird seinen Verfolgern besser entkommen, und außerdem setzt er nun andere Verhaltensweisen zum Selbstschutz ein, ein verwirrendes Schaukelschwimmen, das zusammen mit dem formauflösenden Tüpfelmuster den Fisch nahezu unsichtbar werden lässt. Vielleicht wären hier Augenflecke als auffallende Farbmarken sogar kontraproduktiv!

Meist jedoch bleiben Augenflecken längere Zeit erhalten, oft sogar bis zur Geschlechtsumwandlung. Dann tragen geschlechtsreife Weibchen noch Augenflecke, Männchen aber keine mehr. Hier könnte bereits die sexuelle Selektion mitspielen. Jedenfalls wird man feststellen, dass in manchen Lippfischgattungen nahezu alle Arten im Juvenilstadium Augenflecke aufweisen, und vielleicht übersieht man sie dort, wo sie nur ganz kurz vorhanden sind – einfach deshalb, weil derart junge Lippfische gar nicht in den Handel kommen (meine Macropharyngodon habe ich deshalb ja selbst gefangen*).

Eine übergeordnetes Kriterium betrifft gleichermaßen alle „aufwendigen“, also energetisch kostenintensiv entwickelten Körpermerkmale gleichermaßen: Sie werden in möglichst vielen unterschiedlichen Lebensbereichen gleichzeitig eingesetzt. Nur schön, nur auffallend, nur wehrhaft zu sein, das ist zu wenig. Schönheit oder was auch immer wir Menschen darunter verstehen spricht Partner an, stößt Gleichgeschlechtliche ab. Auffallendes kann dasselbe bewirken und zusätzlich Feinde verwirren. Stacheln, Höcker und andere auffallende Waffen werden dasselbe Ziel anstreben und zusätzlich einem Partner imponieren können.

Um nun beim Scheinauge zu bleiben: Dieses Merkmal, das einem „echten“ Auge möglichst ähnlich sehen soll, ja, es in seiner Aussagekraft (als übernormaler Auslöser) sogar überflügeln kann, hat morphologische Änderungen zur Folge: Scheinaugenträger verbergen ihre funktionellen Sehorgane meist in raffinierten Streifen-, Masken- und Fleckenzeichnungen. Nun wissen wir, dass eben die Augen und vor allem deren Farbe für die meisten Fische (und nicht nur für diese! Dazu THALER 2001, 2011a) wichtige soziale Informationsträger darstellen. Sobald sie im Dienst der Feindverwirrung und Feindvermeidung stehen, sind sie als Kommunikationsmittel aber nicht mehr einsatzfähig, denn sie sind dann unkenntlich, eben getarnt! Und nun kommt der entscheidende Satz: Wenn das echte Sehorgan für diese Sekundärfunktion nicht verwendbar ist, muss das Scheinauge diese übernehmen!

Dieses Scheinaugenphänomen und seine Mehrfachnutzung in unterschiedlichen Verhaltensbereichen hat mich fasziniert, jahrelang beschäftigt und zu einigen plausiblen erklärenden Hypothesen geführt. Die kamen mir lange Zeit auch vernünftig vor, schienen mir überzeugende Antworten auf manche Fragen zu geben. Wie etwa die Hypothese, dass Scheinaugen-Farbänderungen etwas mit Partnerfindung, mit Partnererkennung und vielleicht sogar Partnerwahl zu tun haben könnten.

Auch die Statistik ließ sich dazu nutzen (ja, die Statistik kann für allerlei gut sein, man muss nur statistisch abfragen), und Krabbenaugengrundeln (Signigobius biocellatus) waren dafür besonders gut geeignet. Als partner- bzw. rivalenaggressive, revierhaltende Grundeln zeigten sie besonders deutlich den Scheinaugen-Farbwechsel von „Normalschwarz“ zu „Hellblaugrün“, und dies innerhalb von Sekunden. Wunderbar durchdachte Versuchsanordnungen testete ich mit meinen Studenten: Ein Fisch, vor dem aggressiven Artgenossen durch die Wand eines Plexiglasgefäßes geschützt, wird dem anderen vorgesetzt, in bestimmtem Abstand zur Wohnhöhle. Die Abstände konnte man vergrößern, verringern, man konnte Probanden austauschen und feststellen, dass ein bestimmter Fisch die Scheinaugen-Reaktion stärker aktivierte (nur ein „Auge“ wurde blau, das andere blieb schwarz), oder auch schneller, ein anderer hingegen gar nicht, während der Festgesetzte im Plexiglasbehälter seinerseits blaue „Augen“ bekam – usw.!

Lauter Fragestellungen, die Antworten dazu konnte man statistisch hieb- und stichfest untermauern! Verwirrend war ab und zu die Tatsache, dass die unterschiedliche Körpergröße keinen Einfluss hatte: Einmal wechselte der Kleine, einmal der Große die Farbe. Am ehesten ließ sich der Abstand zur Wohnhöhle statistisch absichern, und ob die nun dem Weibchen oder dem Männchen gehörte und wer sie intensiver bewachte. Jedenfalls ließen sich solche Abstandsreaktionen auch gut an dem vermutlichen Geschlecht festmachen – Männchen bzw. Weibchen. Die Partner erkannten einander an der Scheinaugenfarbe, das jedenfalls ließ sich absichern! Man konnte demnach Männchen und Weibchen unterscheiden (besser: sie konnten einander unterscheiden!) und verträgliche Paare erzielen, denn das war gerade bei diesen streitsüchtigen Fischen ansonsten äußerst schwierig. Scheinbar harmonische Paare gerieten nämlich nach einiger Zeit immer aneinander.

Es lag nahe, solche und ähnliche Fragen zu allen möglichen anderen Fischfamilien zu stellen, besonders zu solchen mit zwei Scheinaugen auf den Flossen, und davon gibt es viele: etwa Dendrochirus biocellatus oder auch Chaetodon melanopus und sogar Chelmon rostratus, der zwar nur ein Scheinauge in der Rückenflosse aufweist, dieses aber sehr eindrucksvoll von Schwarz auf „Hellgrünlich“ ändert..Valenciennea wardii; die kleine, zarte Amblyeleotris randalli oder die Hektorgrundel (Koumansetta hectori) konnten wir testen. Und da ist mir erstmals richtig vor Augen geführt worden, dass der (inzwischen längst gut bekannte) Geschlechtswechsel eben keineswegs nur eingleisig abläuft (PATZNER et al. 2011, THALER 2011b). Damit wurden die Versuche bzw. deren Aussage löchrig. Auch die zurechtgebogene, gut passende Statistik wurde unglaubwürdig. Wir mussten eigentlich die gesamte Palette der motivationsabhängigen Farbwechselphänomene unter diesem Aspekt neu überdenken.  

Und so ging eben die alte, geliebte „partnerbezogene Scheinaugenhypothese“ den Bach runter. Man konnte erst dann Gegenargumente einsetzen, wenn man sich von seiner eigenen starren Vorgabe gelöst hatte. Beim Pfauenaugen-Rotfeuerfisch (Dendrochirus biocellatus) etwa, der ja seine Scheinaugenfarbe wunderschön und schnell hin- und herwechselte, und an dem mir bald schon Zweifel kamen, ob das tatsächlich was mit Partnererkennen zu tun hat, lag es auf der Hand, nah verwandte Arten zu beobachten: Dendrochirus zebra oder D. brachypterus, beide ohne Augenflecken, vollführen bei Aufregung oder in Stresssituationen ähnliche Wellenbewegungen der gesamten (giftigen) Rückenflosse, nur fällt sie bei D. biocellatus viel stärker auf! Und das hat gar nichts mit Partnerorientierung zu tun, sondern es ist ein Zeichen von Angst oder Stress oder auch Dominanz!

Geht man mit dieser Sichtweise an die farbwechselnden Krabbenaugengrundeln (Signigobius biocellatus) heran und stellt die Frage nach Dominanz in den Vordergrund, dann löst sich alles wundersam auf: Nicht Weibchen gegen Männchen agieren derart, sonder „nur“ Dominante gegenüber Unterlegenen, und da passt auch gerade noch die Wohnhöhlentheorie samt zugehöriger Statistik. Derjenige, dem die Höhle zu einem bestimmten Zeitpunkt gehört, ist dominant und muss das demonstrieren. Meist ist es diejenige Grundel, die von der Höhle zuerst Besitz ergriffen hat und von vornherein in besserer Ausgangsposition ist, da spielt dann eben die Körpergröße eine eher untergeordnete Rolle. Man konnte nun eine Grundel aus der okkupierten Höhle herausjagen und der anderen den Zugang ermöglichen: schon wurde „andersherum“ gewechselt.

Im glücklichen Fall, dass beide Grundeln zusammen und für längere Zeit dieselbe Höhle teilen, bedeutet das einen ausgeglichenen „Gemütszustand“ und gleiches Kräfteverhältnis. Da wird dann auch kaum mehr die Scheinaugenfarbe gewechselt, alles bleibt im neutralen Schwarz. Grün, Türkis oder Bläulich bedeuten jedenfalls überall, quer durch alle Taxa: Erregung! Stress! Missvergnügen! Blau bzw. Grün sind also, energetisch gesehen, teurer als Schwarz und müssen, wenn kein Bedarf vorliegt, nicht angewendet werden. Auch der Farbwechsel als solcher ist sicher aufwendig. Wenn möglich, verzichten die Fische deshalb darauf: eine sinnvolle Energiesparmaßnahme!

Prof. Dr. Ellen Thaler

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*Prof. Ellen THALER ist Ethologin und seit mehr als drei Jahrzehnten intensiv mit der Erforschung des Verhaltens von Vögeln und Korallenfischen befasst. Zu diesem Zweck fängt sie mit behördlicher Genehmigung regelmäßig Korallenfische im Larvenstadium oder mit wenigen Millimetern Körperlänge, um sie nach Österreich in ihre Arbeitsaquarien zu transportieren (in fast allen Fällen verlustfrei!) und daheim gemeinsam mit ihren Studierenden beim Heranwachsen zu beobachten, um Entwicklung, Verhalten und Geschlechtswechsel zu dokumentieren.
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Literatur:

PATZNER, R.,J. L. V. TASSEL & M. KOVACIC (Hrsg., 2011): The Biology of Gobies. – Science Publishers, Enfield, USA.

THALER, E. (2001): Das Spiel mit der Schönheit: Wer macht wem schöne Augen? – Konrad Lorenz und seine verhaltensbiologischen Konzepte aus heutiger Sicht. Hrsg: K. KOTRSCHAL, G. MÜLLER & H. WINKLER. – Filander-Verlag, Fürth.

– (2011a): Ich schau dir in die Augen, Kleiner. – KORALLE 70, 12 (4): 72–74.

– (2011b): Trendsetter Nanogrundeln. – KORALLE 72, 12 (6): 38–40.