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1-2_systematik_seenadelnKaum zu glauben, dass es sich bei diesen fabelhaft anmutenden, nadelförmigen Wesen tatsächlich um Fische handelt, fehlt ihnen anatomisch doch nahezu alles, was diese eigentlich ausmacht: auffällige Flossen, ein seitlich abgeflachter Körper und typische Schwimmbewegungen. Dennoch – oder gerade deshalb – kann sich der Faszination, die von diesen filigranen Geschöpfen ausgeht, kaum jemand entziehen.



Die Familie der Seenadeln umfasst unzählige, sehr unterschiedliche Fische. Derzeit sind es knapp 300 Arten in rund 50 Gattungen, und regelmäßig erfolgen Neubeschreibungen bislang unbekannter Spezies. Bei den meisten von ihnen handelt es sich um Meeresbewohner, wenngleich es auch Brack- und Süßwasserarten gibt. Für die Meerwasseraquaristik sind nur die marinen Arten aus tropischen Regionen von Interesse – allerdings ist es auch nach dieser Eingrenzung eine Herausforderung, die immense Artenvielfalt innerhalb der Familie Syngnathidae zu überblicken. Umgangssprachlich als Seenadeln bezeichnet werden in der Regel nur die Vertreter der Fahnenschwanz-Seenadeln (Unterfamilie Doryrhamphinae, z. B. die Gattungen Doryrhamphus und Dunckerocampus), die Eigentlichen Seenadeln (Unterfamilie Syngnathinae) sowie manche Nadelpferdchen (Unterfamilie Solegnathinae). Taxonomisch gesehen gehören jedoch auch die Seepferdchen (Gattung Hippocampus, Unterfamilie Hippocampinae) sowie die bizarren Fetzenfische (Unterfamilie Solegnathinae) zur Familie der Seenadeln.

Was sind Seenadeln?
Seenadeln fallen vor allem durch ihre bemerkenswerte Anatomie auf, nämlich die „Nadel“-Form. Sie ist dafür verantwortlich, dass Seenadeln auf den ersten Blick sehr fischuntypisch erscheinen. Dennoch handelt es sich um Fische, denen es funktional an nichts mangelt – sie verfügen wie alle Korallenfische über Kiemen sowie das Seitenlinienorgan und viele Arten auch über eine Schwimmblase.

Das enge verwandtschaftliche Verhältnis der Seenadeln zu den Seepferdchen (Gattung Hippocampus) ist zwar nicht sofort ersichtlich, aber doch eindeutig: Zwar wirken Letztere aufgrund ihrer aufrechten, ja nahezu menschlich anmutenden Körperhaltung wie völlig andersartige Geschöpfe als ein Korallenfisch, doch tatsächlich handelt es sich anatomisch gesehen bei einem Seepferdchen um nichts anderes als eine Seenadel, die sich mit angewinkeltem Kopf in vertikaler Haltung bewegt.

Anatomie
Alle Seenadelverwandten (Syngnathiformes) werden aufgrund ihrer einzigartigen Anatomie oft auch als „Röhrenmäuler“ bezeichnet. Namensgebend ist hier die röhrenförmige, stets zahnlose Schnauze. Sie ist an den Vorgang des Saugschnappens angepasst, mit dessen Hilfe Kleinkrebse und Garnelenartige – die typische Nahrung aller Röhrenmäuler – besonders effektiv aufgenommen werden können. Charakteristisch für die Familie Syngnathidae ist zudem das Skelett, das aus unter der Haut liegenden Platten besteht und den vermeintlich zerbrechlichen Tieren eine immense Stabilität und mechanische Widerstandskraft verleiht. Von anderen Fischen unterscheiden sich Seenadeln auch durch ihre Beflossung: Die meisten Flossen sind stark unterentwickelt, und die Bauchflossen fehlen sogar gänzlich. Über eine Schwanzflosse verfügen jedoch nahezu alle Spezies, denn sie dient in den meisten Fällen als Hauptantrieb bei der Schwimmbewegung.

Anpassung an den Lebensraum
Während sich alle Seenadeln hinsichtlich ihrer Anatomie sehr ähneln, gibt es doch artspezifische Anpassungen an Lebensraum und Lebensweise. Vor allem die Schwimmfähigkeit ist hier ein wichtiges Unterscheidungskriterium: Während viele Spezies schlechte Schwimmer sind, die sich stets „liegend“ in Substratnähe aufhalten und deren Überlebensstrategie vor allem Tarnung ist, gibt es auch schnelle und elegante Schwimmer. Daher werden zwei Gruppen unterschieden: die „Liegenden Seenadeln“ (z. B. aus den Gattungen Corythoichthys und Bryx) sowie die frei schwimmenden Arten, zu denen vor allem die Fahnenschwanz-Seenadeln (Doryrhamphus, Dunckerocampus) gehören. Die Grenzen zwischen beiden Lebensweisen verlaufen jedoch fließend, und so gibt es auch Spezies, die zwar nicht ausschließlich substratorientiert leben, denen es aber an der außerordentlichen Schwimmfähigkeit der Fahnenschwanz-Seenadeln fehlt. Zu dieser Gruppe gehören etwa die Arten der Gattungen Syngnathoides und Trachyrhamphus.

Relevante Gattungen
Eine vollständige Darstellung aller Gattungen der Familie Syngnathidae unter systematischen Gesichtspunkten würde ein dickes Buch füllen. Im Folgenden sollen daher vor allem diejenigen berücksichtigt werden, die auch hinsichtlich einer möglichen Aquarienpflege interessant sind. Dies sind zum einen die Fahnenschwanz-Seenadeln (Doryrhamphus, Dunckerocampus), die Liegenden Seenadeln (Corythoichthys, Bryx, Cosmocampus) sowie Syngnathoides und Trachyrhamphus.
Welche anatomischen Besonderheiten und Überlebensstrategien machen diese Seenadeln aus und unterscheiden sie voneinander?

Gattung Doryrhamphus
Die Gattung Doryrhamphus enthält zwölf Arten, von denen vor allem zwei sehr bekannt sind: Doryrhamphus janssi und D. excisus. Letztgenannte, die Blaustreifen-Seenadel, ist vermutlich diejenige Spezies, die mit Abstand am häufigsten in Aquarien gepflegt wird – zu Recht, weil sie aufgrund ihrer Robustheit auch am besten dafür geeignet ist. Neben D. excisus existieren einige sehr ähnliche, ebenfalls blau-gelb gestreifte Arten, etwa D. japonicus, die aber praktisch nie für den Zierfischhandel importiert werden. Die oft verwendete Bezeichnung Doryrhamphus „melanopleura“ ist übrigens ein Synonym für die Unterart D. excisus excisus, neben der einige weitere Subspezies existieren.

Die Seenadeln der Gattung Doryrhamphus werden gemeinsam mit den Verwandten der Gattung Dunckerocampus als Fahnenschwanz-Seenadeln bezeichnet, und dieser Populärname verweist auf ihre wichtigste anatomische Besonderheit: Die Schwanzflosse ist zu einem nahezu kreisrunden Schild geformt, der wie ein Fächer in der Größe variiert werden kann. Voll aufgespannt wirkt er im Verhältnis zum äußerst zierlichen Körper der Seenadel sehr imposant und leistet in der Schwimmbewegung kräftigen Vorschub. Infolgedessen gehören Fahnenschwanz-Seenadeln zu den elegantesten und sichersten Schwimmern der Familie.

Alle Arten der Gattung leben im Indopazifik zumeist paarweise in Riffnähe und an Sandflächen unter Überhängen und im Korallendickicht. Familientypisch ernähren sie sich von Kleinkrebsen. Zuweilen betätigen sich alle Doryrhamphus-Arten in der Natur auch als Putzerfische, indem sie Parasiten von der Haut größerer Fische picken. Doryrhamphus ist die einzige Gattung der Familie, in der die Geschlechter anhand äußerer Merkmale unterschieden werden können. Zumindest im Fall von D. excisus, D. japonicus, D. negrosensis und D. janssi weisen Männchen auffällige Zacken auf dem Rücken des Röhrenmauls auf, wohingegen die Schnauze der Weibchen völlig glatt ist.

Gattung Dunckerocampus
Die Gattung Dunckerocampus zählt ebenfalls zur Gruppe der Fahnenschwanz-Seenadeln, und anatomisch ähneln ihre Arten stark den Verwandten aus der Gattung Doryrhamphus. Deshalb behandeln manche Autoren Dunckerocampus auch als Untergattung zu Doryrhamphus. Mit 15–20 cm Gesamtlänge erreichen Dunckerocampus-Spezies jedoch deutlich mehr an Größe als andere Fahnenschwanz-Seenadeln und weisen ein noch längeres, filigraneres Röhrenmaul auf. Von den sieben Arten der Gattung sind vor allem die Suluseenadel (Dunckerocampus. pessuliferus) und die Zebraseenadel (D. dactyliophorus) für die Aquaristik von Bedeutung, wohingegen D. baldwini, D. boylei, D. naia, D. chapmani und D. multiannulatus nur sehr selten und nicht gezielt importiert werden.

Wie nahezu alle Seenadeln tragen in der Gattung Dunckerocampus die Männchen zur Fortpflanzung die Eier in einer Bruttasche aus, die sich in Längsrichtung über die gesamte Bauchunterseite erstreckt – nur bei wenigen Arten kleben die Eier direkt unter dem Körper. Anders als Doryrhamphus-Arten zeigen die Fahnenschwanz-Seenadeln der Gattung Dunckerocampus keine äußerlichen Geschlechtsmerkmale.

Gattung Corythoichthys
Die 23 Arten der Gattung Corythoichthys zählen zur Gruppe der Liegenden Seenadeln und stammen allesamt aus dem Indopazifik. Bekannt sind vor allem drei Arten: Corythoichthys haematopterus, C. intestinalis und C. schultzi. Die einzelnen Spezies ähneln sich stark, und weil die Färbung je nach Herkunft, Geschlecht und Habitat variieren kann, ist eine korrekte Bestimmung zuweilen schwierig. In der Natur leben Corythoichthys spp. vor allem auf den Geröll- und Sandflächen in der Nähe von Korallenformationen. Mit 20–30 cm Gesamtlänge erreichen die meisten Arten eine stattliche Größe. Im Gegensatz zu Fahnenschwanz-Seenadeln bewegen sie sich nur wenig und verbringen die meiste Zeit „liegend“.

Wie alle Mitglieder der Familie Syngnathidae tragen auch bei den Liegenden Seenadeln die Männchen die Brut aus, wobei sich die Bauchtasche, in der die Eier aufgenommen werden, nicht wie etwa bei Doryrhamphus spp. über nahezu die gesamte Bauchunterseite erstreckt, sondern unter dem Schwanzende angelegt ist. In der Regel bildet Corythoichthys spp. Paare, manchmal aber auch lose Gruppen. Im Fall von C. haematopterus konnte durch wissenschaftliche Studien eine monogame Lebensweise nachgewiesen werden.

Gattung Syngnathoides
Syngnathoides ist eine Gattung, die nur eine einzige Art enthält, nämlich S. biaculeatus. Sie bewohnt ein ausgesprochen großes Verbreitungsgebiet, das sich vom Roten Meer über Ost-Afrika bis nach Japan und in den Zentralpazifik erstreckt. Auch gemessen an anderen Mitgliedern der Familie Syngnathidae bietet S. biaculeatus einen außergewöhnlichen Anblick, und das bizarre Äußere dieser Art hängt mit ihrem Habitat zusammen: Syngnathoides biaculeatus lebt zumeist in sehr flachen Lagunen, in denen Seegras wächst, und passt sich dieser marinen Flora durch die Tarnungsstrategie der Mimese an. Im natürlichen Habitat ist sie aufgrund von Körperform und -farbe kaum vom Seegras zu unterscheiden und schützt sich somit effektiv vor Räubern. Dies erreicht sie nicht nur durch ihre grün-braune Färbung, sondern auch durch den dreieckig geformten Körperquerschnitt, der an ein fleischiges Sargassum-Blatt erinnert, sowie den Umstand, dass Kopf- und Schwanzende nahezu identisch aussehen, weil die Augen durch die Tarnfärbung des Körpers gut verborgen sind. Diesen anatomischen Besonderheiten verdankt S. biaculeatus auch die Namen Dreieckige Seenadel und Doppelenden-Seenadel.

Mit bis zu 30 cm Gesamtlänge und einem Körperdurchmesser von bis zu 5 cm hebt sich diese Seenadel aber auch aufgrund ihrer Größe deutlich von ihren zierlichen Verwandten ab.
Außerdem ist S. biaculeatus eine der wenigen Arten aus der gesamten Familie Syngnathidae, die ihr Schwanzende – wie die Seepferdchen – aktiv zum Greifen einsetzen können. Dies ist natürlich nützlich, um sich am Seegras festzuhalten und mit der Pflanze optisch zu verschmelzen. Unter systematischen Gesichtspunkten ist bemerkenswert, dass diese Art eigentlich zur Unterfamilie Solegnathinae gehört und damit den Fetzenfischen wesentlich näher steht als den Eigentlichen Seenadeln (Syngnathinae).

Gattung Bryx
Die Gattung Bryx besteht aus nur vier Arten, von denen aquaristisch allenfalls die karibische Spezies B. dunckeri relevant ist. Sie wird gelegentlich importiert – oft unter falscher Bezeichnung, etwa als Corythoichthys sp. oder einfach als unbestimmte Seenadel. Mit nur 10 cm Gesamtlänge gehört die Art zu den kleinsten der Familie, unterscheidet sich in ihrer Lebensweise aber kaum von den größeren Liegenden Seenadeln. Ihr auffällig kurzes, zierliches Röhrenmaul zeichnet sie jedoch als Fresser vergleichsweiser kleiner Krebstiere aus. Bryx dunckeri lebt bevorzugt in küstennahen Flachwasserbereichen mit kurzem Seegrasbewuchs (in der Regel Thalassia sp.).

Da alle Bryx-Arten farblich stark variieren können, ist eine Unterscheidung von anderen Gattungen mit ähnlicher Anatomie nicht immer einfach. Als eindeutiges Bestimmungskriterium dient jedoch die in der Gattung Bryx grundsätzlich fehlende Afterflosse. Eine einwandfreie Bestimmung innerhalb der Gattung ist in manchen Fällen ohne taxonomische Kenntnisse unmöglich.

Gattung Cosmocampus
Von den etwa 14 Arten der zirkumtropischen Gattung Cosmocampus ist allenfalls C. maxweberi für die Aquaristik interessant. Das Verbreitungsgebiet dieser Art erstreckt sich im Indopazifik vom Golf von Aqaba über Indonesien bis zu den Marshall-Inseln und Samoa. Auch wenn sie nicht wie andere Seenadeln gezielt importiert wird, gelangt diese Art doch manchmal unter falscher Bezeichnung in den Handel. Bei allen anderen Mitgliedern der Gattung ist selbst dies – teilweise aufgrund ihres geografischen Vorkommens – sehr unwahrscheinlich.

In der Literatur werden als natürliches Habitat Geröllfelder angegeben, doch haben Aquarienbeobachtungen ergeben, dass Max Webers Seenadel sich nicht bevorzugt am Boden aufhält, sondern sich lieber zwischen Korallen versteckt. Zwischen den Ästen z. B. von Gorgonien sind die Seenadeln mit ihrem lang gestreckten, sehr dünnen Körper perfekt getarnt.

Gattung Trachyrhamphus
Alle drei Arten der Gattung Trachyrhamphus (T. bicoarctatus, T. longirostris und T. serratus) werden umgangssprachlich als Spazierstock-Seenadeln bezeichnet. Sie gehören aufgrund ihres Verhaltens sicher zu den außergewöhnlichsten Vertretern der Familie Syngnathidae, die man in Aquarien pflegen kann. Beheimatet sind Spazierstock-Seenadeln im Indischen Ozean und im Westpazifik in Außenriffen auf strömungsexponierten Sand- und Schlammflächen, wo Seegras wächst. Im Gegensatz zu vielen Verwandten scheuen Trachyrhamphus spp. also keine starke Wasserbewegung – vielmehr nutzen sie diese für ihre raffinierte Mimikry: In der typischen Körperhaltung liegt der Schwanz auf dem Untergrund auf, während der Körper schräg nach oben getragen wird, so dass der Kopf recht weit über dem Substrat in der Strömung steht. Räuber werden getäuscht, weil sich die Seenadel dabei wie ein treibender Ast oder ein abgestorbenes Seegrasblatt im Wellenschlag bewegt. Auf diese Weise können sich die Tiere in ungeschützte Bereiche trauen, die riffgebundene Spezies stets meiden. Diese Lebensweise hat zu einem anatomischen Sonderfall geführt, denn Spazierstock-Seenadeln besitzen keine Schwanzflosse. Wenngleich diese bei fast allen anderen Gattungen vorhanden ist, hat sie die Evolution in der Gattung Trachyrhamphus eingespart – schließlich wäre sie nur hinderlich, wenn die Tiere auf dem Schwanzende balancieren. Mit bis zu 40 cm Gesamtlänge erreichen Spazierstock-Seenadeln eine imposante Größe.

Inken Krause

Artikel KORALLE 66: 26–32