Das Meerwasseraquaristik-Fachmagazin KORALLE bietet jedem Meerwasseraquarianer eine Fülle interessanter, fundierter und modern gestalteter Beiträge. Es werden die unterschiedlichsten Aspekte behandelt: Aquarienpraxis, Haltung und Vermehrung einzelner Arten, biologische Hintergrundberichte, Aquarientechnik und -chemie, Neues aus der Wirtschaft, Buchmarkt, Reportagen und Reiseberichte, Interviews und vieles mehr; alles leicht verständlich, allgemein interessant und unterhaltsam. Die Zeitschrift erscheint zweimonatlich.

1-3_weichkorallenkrabbe_hoplophrys_oatesii_dekoriert_sichNicht alles im Korallenriff ist das, wofür wir es halten. Das gilt ganz besonders für die Beziehungen und Interaktionen zwischen einzelnen Tiergruppen, die wir nur sehr begrenzt wahrnehmen und verstehen. Aquarienbeobachtungen können oft helfen, dem Kern der Sache näher zu kommen.

Der Mensch denkt in Kategorien. Und das ist auch gut so, denn es hilft ihm, über die Dinge zu kommunizieren, die in der Natur vor sich gehen – auch wenn die Sache in Wirklichkeit ganz anders ist, denn die Natur arbeitet mit enorm komplexen Systemen und fließenden Übergängen. Leider kann der menschliche Verstand genau dies bestenfalls ansatzweise leisten, denn er arbeitet eben mit Kategorien, mit geistigen Schubladen; Nutztier – Schädling. Hinzu kommt, dass wir Menschen beim Kategorisieren immer unsere eigenen Interessen zugrunde legen; gut – böse. Die Natur setzt andere Prioritäten, die wir Menschen meist nicht auf Anhieb oder gar nicht erkennen.

Die aquaristische Diskussion um „Schädlinge“, „Plagegeister“ und „Parasiten“ ist ein gutes Beispiel dafür, weil sie in Gut und Böse einteilt, ohne sich über die tatsächlichen Ursachen einer Entwicklung, die für uns Aquarianer negativ ist, Gedanken zu machen. Glasrosen breiten sich aus und verdrängen Korallen, also sind sie böse? Nein, Glasrosen tun das, was ihrem genetischen Auftrag entspricht. Und dieser genetische Auftrag hat über Jahrmillionen ihr Überleben gesichert. Aber indem wir sie in unser Aquarium bringen, verändern wir ihre Umwelt so, dass dieser genetische Auftrag zu einer Fehlanpassung wird. Die Schuld für diese Entgleisung liegt bei uns, nicht bei den Glasrosen. Um ein wenig Abstand zu dieser Gut/Böse-Kategorisierung zu bekommen, habe ich vor einiger Zeit für solche Organismen den Begriff „Trojaner“ vorgeschlagen (KNOP 2009).

Um die Riffökologie besser zu verstehen, müssen wir stets versuchen, in komplexen Systemen zu denken, anstatt Verhalten einzelner Arten isoliert zu betrachten. Ein Beispiel aus dem Buch „Trojaner im Meerwasseraquarium“ mag dies verdeutlichen: Eine Riesenmuschel ist mit Gehäuseschnecken der Familie Pyramidellidae befallen, die ihre Blutlymphe saugen, und sie wird von ihnen allnächtlich geplagt. Wer dies wahrnimmt, wird spontan versucht sein zu sagen, die Muschel leide unter der Anwesenheit der Schnecken. Ich behaupte, das ist falsch: Sie leidet nicht unter der Anwesenheit der Schnecken, sondern unter der Abwesenheit von deren Räubern! Erst der fehlende Räuberdruck im Aquarium – den natürlich wir Aquarianer zu verantworten haben – lässt die Anwesenheit der Pyramidelliden für die Riesenmuschel zu einem Problem werden. In der Natur sind die Schnecken ebenfalls präsent, aber dort wird ihre Populationsdichte durch den Räuberdruck kontrolliert. Ebenso wie bei Glasrosen & Co, eben bei allem, was wir als „Schädlinge“, „Plagegeister“ und „Parasiten“ bezeichnen. Sie alle sind unverzichtbarer Teil eines hochkomplexen natürlichen Ökosystems mit unzähligen Interaktionen.

Eine kleine Zitronengrundel (Gobiodon okinawae) muss nur einmal vor unseren Aquarianeraugen herzhaft in die Polypen der stahlblauen und sündhaft teuren Acropora echinata beißen, und schon werden wir ihr mit wutverzerrten Gesichtszügen parasitäres Verhalten unterstellen und befreundete Aquarianer vor der Pflege warnen. Dabei bringt ihr Verhalten als Gesamtheit betrachtet der Koralle mehr Nutzen als Schaden, und ihre geschlechtliche Vermehrung durch das Gelege, das sie auf dem Korallenskelett vielleicht anheften will, ist Bestandteil dieser nutzbringenden Beziehung. Oder denken wir – um ein weiteres der vielen Beispiele aus dem oben zitierten Buch zu nennen – an die Krebse der Gattung Cymo, die mit speziell umgebildeten Borsten an Steinkorallen kratzen, um sich von deren lebendem Polypengewebe zu ernähren. Folgt man der Kategorisierung der tierischen Lebensweisen, die wir Menschen uns einfallen ließen, dann handelt es sich bei ihnen fraglos um Parasiten – klarer Fall, denn sie ernähren sich ja vom Gewebe des Wirts. Aber bei näherem Hinsehen ist der Fall gar nicht so klar wie er scheint, denn diese Krebschen ziehen nicht vagabundierend umher, sondern leben auf einer bestimmten Wirtskoralle. Und diese „Wohnkoralle“ verteidigen sie vehement gegen hungrige Angreifer, die ihr weitaus mehr schaden würden als die Krebschen selbst. Und da diese Crustaceen darüber hinaus in höchstem Maß territorial sind, wird ihre Populationsdichte niemals so groß, dass die Korallen darunter leiden. Mehr noch: Unser menschliches Verständnis interpretiert ihr territoriales Verhalten als „intraspezifische Aggressivität“ und steckt sie damit in die „Rüpel-Schublade“. Tatsächlich aber ist dieses Verhalten wiederum ein unverzichtbarer Bestandteil eines Systems, denn es schützt die Korallen. Was wir hier vor uns haben, sind Teile eines hochkomplexen Verhaltens-Netzwerks, von dem wir aber eben immer nur winzige funktionelle Bestandteile zu Gesicht bekommen – als stünden wir in einer riesigen Lagerhalle mit dicht gefüllten Regalen, die bis unter das Hallendach reichen, aber es ist Nacht, stockdunkel, und wir können immer nur das wahrnehmen, was gerade vom dünnen Lichtkegel unserer Taschenlampe erhellt wird. Alles andere bleibt uns verborgen; wir sehen niemals das große Ganze. Ebenso ist es mit dem Geflecht der Beziehungen und Abhängigkeiten im Riffökosystem – und eben auch im Korallenriffaquarium.

Ich hatte unlängst das Glück, über ein weiteres und ausgesprochen faszinierendes Beispiel zu stolpern. Wegbereitend dafür war Dr. Manfred SCHLÜTER von der Firma Aqua Medic, der mich am Interzoo-Ausstellungsstand seiner Firma mit einer großen Kamera vor einem kleinen Aquarium stehen sah, in dem ich ein noch kleineres Krebschen fasziniert fotografierte. Zum Ende der Messe bot er mir an, das Tierchen mitzunehmen und die Wirtskoralle, auf der es saß, gleich dazu. Diese Lebensgemeinschaft aus Wirtskoralle und dem „Parasiten“, der ihre Polypen abreißt und stiehlt, wurde in ein 20-l-Nanobecken gesetzt, intensiv beobachtet und – richtig geraten – mit großer Leidenschaft fotografiert.

Es handelte sich um Hoplophrys oatesii aus der Familie Majidae (Spinnenkrabben), die dafür bekannt sind, dass sie sich zur Tarnung unterschiedlichste Algen- oder Tierbestandteile auf den Carapax setzen. Zunächst stakste das Krebschen mit seinen Beinchen auf den Ästen der Koralle umher, um sich dann an geeigneter Stelle zwischen den Polypen mit seinen Beinspitzen festzuklemmen. Kurioserweise schien die apfelsinenfarbige Dendronephthya sich aber an der Anwesenheit des Krebses nicht im Mindesten zu stören. Ursprünglich hatte der Krebs auf einer roten Koralle dieser Gattung gesessen, an die er auch farblich angepasst war. Ich wollte nun herausfinden, ob er sich nach diesem erzwungenen Umzug in die orange Koralle auch farblich an sie anpassen würde. Das wurde mir bald bestätigt, er tat es; zumindest war der Beginn einer solchen Umfärbung am Körper zu sehen. Dann folgte der wohl faszinierendste Teil des Schauspiels: Die Krabbe begann, einzelne Polypengruppen der Dendronephthya mit den Scheren abzuzwacken und sich auf den Rücken zu setzen. An bestimmten, dafür vorgesehenen Körperstellen befanden sich winzige, borstenförmige Strukturen, die offenbar Haftsubstanzen absonderten, und hier blieben die Korallenstückchen stets an Ort und Stelle.

Dieses Verhalten war mir nicht grundsätzlich neu, doch ich hatte immer angenommen, dass die Polypengruppen auf dem Krebskörper allmählich zugrunde gingen und laufend durch neue ersetzt würden. Doch zu meinem Erstaunen schienen sich die Dendronephthya-Stückchen auf dem Krebspanzer sogar ausgesprochen wohl zu fühlen. Die Polypen pumpten sich auf und streckten fortwährend ihre Tentakel aus, um vorbeidriftendes Plankton zu fangen, ebenso wie die Polypen der Mutterkoralle. Mehrmals täglich fütterte ich den „Polypengarten“ auf dem Krebschen direkt mit einer kleinen Laborpipette.

Mehr und mehr Polypen stahl die Krabbe der Koralle, um sie auf ihren Panzer zu pflanzen, doch das Nesseltier schien dies überhaupt nicht zu interessieren. Erstaunlich: Der Korallenklau geht um, und die parasitengeplagte Wirtskoralle kommt nicht einmal ansatzweise auf die Idee, ihre Polypen zu schließen und in Sicherheit zu bringen. Was ging hier vor? Hatte die Koralle am Ende sogar Interesse an dem, was die Krabbe da tat? Wie kann der Koralle ein „Parasit“ willkommen sein? Das widerspricht doch jeder Vernunft!

Der menschlichen vielleicht. Aber hier trifft wieder die oben zitierte Metapher von dem Taschenlampenstrahl in der nachtdunklen Lagerhalle: Ich sah nur ein kleines Mosaiksteinchen des gesamten, komplexen Interaktionsmusters, und wieder einmal zeigte sich: Tiere sind klüger als Menschen. Nach zwei Wochen wurde mir klar, worin der wesentliche Vorteil liegt, den die Koralle aus diesem „räuberischen“ Verhalten des Krebses zieht, ein Vorteil, der geradezu existenziell sein kann, bislang aber möglicherweise noch nicht entdeckt worden war. Diese Krebschen häuten sich regelmäßig, weil ihr Panzer nicht mitwachsen kann. Darum streifen sie ihn ab und pumpen ihren Körper mit Wasser auf, damit der neue, noch weiche Panzer in gedehntem Zustand aushärtet und sie in der folgenden Zeit im Innern des Panzers wachsen können. Dies nützt der Koralle, denn wenn der leere, abgeworfene Krebspanzer mit der Meeresströmung verdriftet, dann gehen ihre anhaftenden Polypen auf die Reise, und zwar erheblich weiter als eine abgeschnürte Polypengruppe, denn diese würde schneller absinken. Der Krebspanzer verleiht den Polypen eine Schwimmfähigkeit, die sie ohne ihn nicht hätten. Irgendwo, an einer strömungsschwachen Stelle, wird dieses Vehikel absinken, und dort kann dann eine neue Dendronephthya-Koralle heranwachsen, die es ohne das Krebschen in der Mutterkoralle nicht gegeben hätte. Viele Male häutet sich ein solcher Krebs in seinem Leben, und zahlreiche der Dendronephthyen im näheren und sogar weiteren Umkreis mögen durch seine Tarnaktivität entstanden sein.

Dies ist nur ein kleines Beispiel dafür, wie sich Tiere im Riff gegenseitig nützen. Sie sind kleine Rädchen in einem unendlich komplexen Getriebe von Interaktionen, und wir Aquarianer versuchen, einzelne Rädchen aus diesem „Getriebe“ herauszulösen, um sie in unserem Riffbecken zum Drehen zu bekommen. Manchmal funktioniert das mehr oder weniger gut, in anderen Fällen aber nicht, weil das dazu nötige Umfeld mit weiteren Rädchen fehlt. Wir brandmarken solche Organismen dann gern als „Schädlinge“, „Plagegeister“ und „Parasiten“, doch damit werden wir ihnen nicht gerecht; wir müssen stets davon ausgehen, dass das, was die Tiere tun, im natürlichen Lebensraum sinnvoll oder gar wichtig ist, nicht nur für sie selbst, sondern auch für irgendwelche anderen Organismen. Im Ökosystem Korallenriff gibt es kein Gut und Böse; Gut und Böse sind Erfindungen des Menschen.

Daniel Knop

Artikel KORALLE 66: 26–32