Das Meerwasseraquaristik-Fachmagazin KORALLE bietet jedem Meerwasseraquarianer eine Fülle interessanter, fundierter und modern gestalteter Beiträge. Es werden die unterschiedlichsten Aspekte behandelt: Aquarienpraxis, Haltung und Vermehrung einzelner Arten, biologische Hintergrundberichte, Aquarientechnik und -chemie, Neues aus der Wirtschaft, Buchmarkt, Reportagen und Reiseberichte, Interviews und vieles mehr; alles leicht verständlich, allgemein interessant und unterhaltsam. Die Zeitschrift erscheint zweimonatlich.

In einem artenreichen, kleinen Riffaquarium spielen sich bisweilen ebenso erstaunliche wie faszinierende Szenen ab, und meist benötigt man eine kleine Portion Glück, um Zeuge zu werden.

Spinnengleich kamen sie aus allen Ritzen und Fugen gekrochen – ein Szenario, das fast an eine Invasion in einem Science-Fiction-Film erinnerte. Unzählige Arme ruderten durch das Wasser, tasteten die Umgebung ab, griffen nach dem Substratgestein, um sich daran emporzuziehen. Jeder strebte nach oben, wollte sich den besten Platz erkämpfen, der Erste sein.  Vom Gesteinsaufbau ging es auf die Aquarienscheiben, daran schließlich hoch bis zur Wasseroberfläche. Doch der Aufstiegsdrang der Schlangensterne war so gewaltig, dass sich einige Exemplare weiter nach oben aus dem Wasser herausschoben, gestützt auf die Leiber ihrer Artgenossen. Mit blindem Eifer sammelte sich eine halbe Hundertschaft an Stachelhäutern – wie auf ein geheimes Kommando. Doch nicht blinder Gehorsam trieb die Tiere oder Angst, sondern der unbändige Wille zur Arterhaltung: Eine Schlangenstern-Hochzeit stand bevor!



Anders als Wirbellose, die sich paaren und ihr Genmaterial direkt austauschen, müssen Freilaicher ihre Geschlechtszellabgabe zeitlich untereinander synchronisieren. Darum benötigen sie einen Auslöser, der bei jedem geschlechtsreifen Artgenossen die komplexe Fortpflanzungsmaschinerie in Gang setzt. Bei diesen Schlangensternen – in der Meerwasseraquaristik oft als Ophiocoma pumila bezeichnet – ist das Signal für die Hochzeit, das alle verstehen, eine plötzliche Veränderung des Umgebungsmilieus. Im vorliegenden Fall wurde sie ausgelöst durch einen üppigen Teilwasserwechsel. Schon während das frische Meerwasser in das Aquarium hineinlief und sich mit dem Altwasser vermischte, streckten sich die ersten Ärmchen unter Gesteinsbrocken hervor. Wenige Augenblicke später schoben sich bereits zahllose Leiber über das Gestein nach oben, in einem Aquarium, in dem noch kurze Zeit zuvor nichts die Anwesenheit auch nur eines einzigen Schlangensterns hätte vermuten lassen. Tiere, die tagsüber im Verborgenen lebten und nachts als Resteverwerter durch das Becken zogen, gaben tagsüber plötzlich ihren Schutz auf und bewegten sich allen Gefahren zum Trotz ins Freie, um ihrem biologischen Auftrag nachzukommen: der Keimzellabgabe.

Während die Mehrzahl der Schlangensternarten getrenntgeschlechtlich ist, sind einige hermaphroditisch, vereinen also männliches und weibliches Geschlecht im gleichen Individuum. Bisweilen findet man bei freilaichenden hermaphroditischen Arten ausschließlich eine Spermienabgabe, wohingegen Eizellen im Körper verbleiben. Befruchtet werden sie schließlich durch Fremdsperma, das nach einem Massenablaichen über das Freiwasser aufgenommen wird. Die Larven solcher hermaphroditischen Brüter verbleiben in den Atemhöhlen, als „Bursae“ bezeichnet, und reifen dort heran.

Beiderseits des Armansatzes an der Unterseite (Oralseite) befinden sich schlitzförmige Genitalöffnungen, die den Ausgang der jeweiligen Bursa darstellen, einer sackförmigen Einstülpung. Normalerweise dienen diese Körperhöhlen der Atmung, indem das Tier mit der Mundscheibenmuskulatur ihr Volumen verkleinert, um Atemwasser auszustoßen oder durch Volumenvergrößerung sauerstoffreiches Wasser hineinsaugt. In diesen Höhlen befinden sich jedoch auch die Keimdrüsen, als Gonaden bezeichnet. Hier reifen die Spermien heran und werden in einer flüssigkeitsarmen Form gespeichert. Für die Keimzellabgabe entleeren sich die Gonaden in die Bursae, die als Sammelbehälter für die Spermien dienen. Hier werden die Keimzellen nun mit Wasser verdünnt, was zu einer gewaltig groß erscheinenden Spermamenge führen kann, die dann schließlich am Ansatz der Arme durch die Öffnung austritt.

Endlos quillt diese weiße Masse durch die Genitalschlitze, tropft herab und zieht im Freiwasser längliche Schlieren. Im Gegenlicht sieht man dann fünf- oder sechsarmige Sternchen mit einem weißen Kometenschweif – eine „Hochzeit in Weiß“. Nur langsam vermischen sich diese Spermamassen mit dem Umgebungswasser, um einen homogenen, weißlichen Nebel zu bilden, der alles umhüllt. Mehr und mehr werden die Teilnehmer dieser kleinen Unterwasserorgie unsichtbar, verschwinden in der Wassertrübung durch ihre eigenen Spermien.

Innerhalb von rund einer Stunde hatten die meisten der etwa 50 Schlangensterne Spermien abgegeben. Manche waren in der Nähe ihres Verstecks geblieben, hatten nur an Ort und Stelle die dafür typische Körperhaltung eingenommen, mit hochgestemmter Mundscheibe, und ein paar Minuten lang eine kleine Keimzellmenge abgesondert, in den Armzwischenräumen an der Mundscheibe soeben als dünne, weißliche Schlieren erkennbar. Doch die überwiegende Mehrzahl der kleinen Stachelhäuter hatte den gefährlichen Weg nicht gescheut, bis zur Wasseroberfläche emporzuklettern, um dafür zu sorgen, dass die eigenen Gene möglichst weit verbreitet werden. Manche von ihnen liefen regelrecht zu Hochform auf und entluden gewaltige Massen in die sechzig Liter Aquarienwasser. Die Trübung war beträchtlich, doch keines der übrigen Aquarientiere entwickelte Anzeichen für einen Sauerstoffmangel oder anderes Unwohlsein. Auch arbeitete der Abschäumer weiterhin normal und zeigte keinerlei Tendenz zum Überschäumen. Schon kurze Zeit später kehrte in dem winzigen Riff wieder Ruhe ein, und nichts erinnerte mehr an die Schlangenstern-Hochzeit. Nichts außer dem dünnen Rest des weißen Schleiers, der im Wasser lag ...

Daniel Knop